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Frühe Ungleichheiten - Zugang zu Kinder­tages­betreuung aus bildungs- und gleich­stellungs­politischer Perspektive

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung (Kita) gilt als wichtige Maßnahme, um allen Kindern unabhängig von ihrem familialen Hintergrund gleiche Chancen auf eine gute Entwicklung zu ermöglichen. Der Kita-Ausbau trägt außerdem dazu bei, die Erwerbstätigkeit von Eltern, insbesondere Müttern, zu fördern, das Familieneinkommen zu steigern und damit Kinderarmut und ihre negativen Konsequenzen auf die kindliche Entwicklung zu verringern sowie langfristig Altersarmut vorzubeugen. Hinzu kommen positive Effekte auf andere gleichstellungspolitische Ziele. Doch trotz der Einführung des erweiterten Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz im Jahr 2013 gibt es nach wie vor große Unterschiede in der Kita-Nutzung nach familialen Merkmalen, sogenannte Kita-Gaps, die frühe Ungleichheiten verfestigen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat dazu nun eine neue Studie veröffentlicht: "Frühe Ungleichheiten Zugang zu Kindertagesbetreuung aus bildungs- und gleichstellungspolitischer Perspektive" stellt aktuelle Befunde zu Unterschieden in der Kita-Nutzung und den Kita-Bedarfen nach familialen Merkmalen dar.

Dabei liegt ein besonderer Fokus auf potenziell benachteiligten Familien: Familien, die armutsgefährdet sind, in denen überwiegend kein Deutsch gesprochen wird, die keinen akademischen Hintergrund aufweisen oder auch Familien mit alleinerziehenden Elternteilen. Diese sogenannten Kita-Gaps werden detailliert über das Alter der Kinder hinweg untersucht. Weiterhin wird untersucht, ob Familien, die mehrere Merkmale potenziell benachteiligter Gruppen erfüllen, besonders große Nutzungsunterschiede und ungedeckte Bedarfe aufweisen. Ebenso werden regionale Unterschiede in Kita-Gaps dokumentiert. Es wird außerdem der Frage nachgegangen, inwiefern mütterliche Erwerbsabsichten aufgrund von ungedeckten Kita- Bedarfen nicht realisiert werden können. Schließlich werden systematisch Gründe für einen ungleichen Kita- Zugang, auf der Nachfrage- und Angebotsseite, untersucht. Die neuen Analysen basieren auf Daten der Kinderbetreuungsstudie (KiBS) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) für die Jahre 2018 bis 2020.

Nach wie vor stark ausgeprägte Ungleichheiten in der Kita-Nutzung nach familialen Merkmalen
Die Analysen zeigen, dass es nach wie vor stark ausgeprägte Ungleichheiten in der Kita-Nutzung nach familialen Merkmalen gibt. Diese Unterschiede sind im zweiten und dritten Lebensjahr der Kinder am größten, zeigen sich aber teilweise bis zum Schuleintritt. Kinder aus Familien, die armuts­gefährdet sind, in denen überwiegend kein Deutsch gesprochen wird oder in denen Eltern keinen akademischen Hintergrund aufweisen, besuchen insbesondere im Alter zwischen ein und unter drei Jahren, aber teilweise auch darüber hinaus, deutlich seltener eine Kita als andere Kinder. Insgesamt nutzen fünf von zehn Kindern im Alter zwischen ein und unter drei Jahren einen Kita-Platz. In armutsgefährdeten Familien sind es mit 26 Prozent nur halb so viele. In Familien, die überwiegend kein Deutsch sprechen, sind es nur drei von zehn Kindern, in Familien ohne akademischen Hintergrund vier von zehn Kindern.

Kita-Bedarfe von potentiell benachteiligten Familien seltener gedeckt
Die geringere Kita-Nutzung von potenziell benachteiligten Familien kann allerdings kaum auf einen geringeren Bedarf zurückgeführt werden. Stattdessen werden bestehende Kita-Bedarfe dieser Familien vor allem seltener gedeckt. Dadurch entstehen höhere ungedeckte Bedarfe vor allen in jenen Familien, in denen nach aktuellen bildungs­öko­nomischen Studien Kinder besonders von einem Kita-Besuch profitieren könnten. Die ungedeckten Kita-Bedarfe sind im zweiten und dritten Lebensjahr von Kindern am größten, zeigen sich aber teilweise bis zum Schuleintritt: Während insgesamt 21 Prozent aller Familien mit Kindern zwischen ein und unter drei Jahren sich einen Kita-Platz wünschen, ihn aber nicht bekommen haben, sind es 25 Prozent der Familien ohne akademischen Hintergrund, 33 Prozent der armutsgefährdeten Familien und 39 Prozent der Familien, in denen überwiegend kein Deutsch gesprochen wird. Auch Familien, in denen die Mutter nicht erwerbstätig ist, weisen mit 31 Prozent vergleichsweise hohe ungedeckte Bedarfe auf. Kinder von Alleinerziehenden nutzen Kitas zwar häufiger, dennoch sind die Bedarfe von Alleinerziehenden im Alter zwischen ein und unter drei Jahren auch deutlich höher. Etwa 27 Prozent der Alleinerziehenden weisen einen ungedeckten Kita-Bedarf auf, deutlich häufiger als in Paarfamilien. Weisen Familien mehrere Merkmale auf, die auf eine potenzielle Benachteiligung schließen lassen, sind die genannten Unterschiede in den ungedeckten Bedarfen noch einmal stärker ausgeprägt. Diese Befunde bestehen, obwohl bildungs- und familienpolitische Maßnahmen wie die Ausweitung des Rechts­anspruchs ab dem zweiten Lebensjahr eines Kindes darauf abzielten, auch eine gleichberechtigtere Teilhabe aller Kinder an einer frühen Bildung und Betreuung in Kitas zu gewährleisten.

Die Analyse legt auch dar, dass bei Eltern, die Kitas nutzen, nennenswerte ungedeckte Stundenbedarfe bestehen. Gleichermaßen berichtet ein substanzieller Anteil anderer Eltern Kitas für mehr Stunden gebucht zu haben als benötigt. Ungedeckte Stundenbedarfe und Überbuchungen unterscheiden sich allerdings kaum nach sozioökonomischen und soziodemografischen Merkmalen der Familien.

Große regionale Unterschiede
Unterschiede in Kita-Nutzung und ungedeckten -Bedarfen nach familialen Merkmalen sind regional sehr unterschiedlich ausgeprägt, insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland. In westdeutschen Bundesländern haben, mit der Ausnahme von Hamburg, vier bis fünf von zehn Kindern zwischen ein und unter drei Jahren einen Kita-Platz, obwohl dieser für sieben von zehn Kindern gewünscht wird. Der ungedeckte Bedarf besteht in West­deutschland also für zwei bis drei von zehn Kindern.

Diese Lücke ist noch einmal deutlich stärker ausgeprägt für Familien ohne abgeschlossenes Studium, die zu Hause überwiegend kein Deutsch sprechen, die armutsgefährdet oder alleinerziehend sind. In ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) nutzen etwa acht von zehn Kindern zwischen ein und unter drei Jahren einen Kita-Platz, obwohl sich für neun von zehn Kindern Eltern einen Kita-Platz wünschen. Der ungedeckte Bedarf besteht in Ostdeutschland also für jedes zehnte Kind und ist deutlich geringer ausgeprägt als in Westdeutschland. Dennoch treten auch in Ostdeutschland für Familien mit bestimmten Merkmalen die ungedeckten Bedarfe häufiger auf, insbesondere für Familien, die überwiegend kein Deutsch sprechen, und für armutsgefährdete Familien.

Erfüllung von Betreuungswünschen und Erwerbsquote von Müttern aus potenziell benachteiligten Familien
In den Untersuchungen konnte außerdem gezeigt werden, dass in Familien, die ihren Bedarf nicht decken können, vielfach Mütter sind, die gern eine Erwerbstätigkeit aufnehmen würden. Unter bestimmten Annahmen ist davon auszugehen, dass eine Erfüllung ihrer Betreuungswünsche mit einem Anstieg in der Erwerbsquote von Müttern mit Kindern im Alter von ein bis unter drei Jahren von etwa 61 Prozent auf 68 bis 72 Prozent verbunden wäre.

Der Anstieg in den Erwerbsquoten fällt dabei für Mütter aus potenziell benachteiligten Familien besonders hoch aus. So ergibt sich für Mütter aus Familien, die zu Hause überwiegend kein Deutsch sprechen oder armutsgefährdet sind, ein Anstieg in den Erwerbsquoten um über 20 Prozentpunkte.

Gründe für ungedeckte Bedarfe systematisch analysiert
Erstmalig wurden in dieser Studie die Gründe für ungedeckte Bedarfe systematisch analysiert. Diese können unterteilt werden in solche, die auf der Nachfrageseite zu verorten sind, und andere, die eher auf der Angebotsseite liegen. Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass Familien, deren Kinder in Kitas bisher unterrepräsentiert sind, den Nutzen eines Kita-Platzes als geringer wahrnehmen und sowohl bei der Suche nach Kita-Plätzen größeren Hürden gegenüberstehen als auch auf Angebote treffen, die weniger die spezifischen Bedarfe dieser Familien abdecken. So empfinden sie die Suche nach Kita-Plätzen als schwieriger und bemängeln beispielsweise häufiger fehlende, wohnortnahe Betreuungsangebote. Auf der Angebotsseite sind die fehlenden Kita-Plätze das Hauptproblem, besonders im Ganztagsbereich – aber teilweise auch die konkrete Ausgestaltung der Angebote, die dazu führen, dass Angebote von bestimmten Familien mit Bedarf nicht genutzt werden.

Maßnahmen zu Verringerung des Kita-Gaps
Die Ungleichheiten in der Bedarfsdeckung haben weitreichende Implikationen – sowohl aus bildungspolitischer als auch aus gleichstellungspolitischer Perspektive, da nicht nur Bildungspotenziale von Kindern, sondern auch Erwerbspotenziale insbesondere von Müttern nicht genutzt werden. Diese Erkenntnisse betonen die Dringlichkeit politischen Handels, gerade vor dem Hintergrund des abnehmenden Erwerbspersonenpotenzials. Es werden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, die dazu beitragen könnten, Kita-Gaps zu verringern. Allen voran steht hier der weitere Ausbau der Kita-Angebote, da allein damit ungedeckte Bedarfe aufgefangen werden könnten. Dabei ist eine wohnortnahe Bereitstellung des Platzangebots für Familien mit ungedeckten Bedarfen von besonderer Bedeutung. Diese Familien äußern auch häufiger Bedarfe an Ganztagsplätzen und passenderen Öffnungszeiten.

Weiterhin könnte die Nutzung von Kitas durch unterrepräsentierte Gruppen mittels einer Reduzierung des Suchaufwands und klarerer Informationen über die Vorteile und den Zugang zu Kita-Plätzen erhöht werden.

Schon bei der Geburtsmeldung im Standesamt könnten relevante Informationen bereitgestellt werden. Des Weiteren könnten beispielsweise im Zuge der geplanten Kindergrundsicherung Familienkassen Familien aktiv über ihr Anrecht auf einen Kita-Platz informieren. Zentrale Kita-Anmelde- und -Vergabe­verfahren, die konsequent angewendet werden, könnten den Suchaufwand für Familien ebenfalls signifikant verringern. Es wäre auch sinnvoll, potenziell benachteiligten Familien proaktiv einen Kita-Platz vorzuschlagen. Bei einem solchen Opt-Out-Verfahren hätten Familien, die momentan keinen Bedarf sehen oder andere Betreuungsvorstellungen haben, die Option, den vorgeschlagenen Platz zu verschieben oder abzulehnen. Eine weitere Möglichkeit zur besseren Bedarfsdeckung könnte in einer finanziellen Incentivierung bestehen, sodass Einrichtungen eine höhere Förderung erhalten, wenn sie Kinder aufnehmen, die bisher unterrepräsentiert sind. Angesichts der häufigen Nennung von Kostengründen bei der Nichtnutzung durch potenziell benachteiligte Familien sollte bei bestehenden Kita-Gebühren eine Gebührenstaffelung vorgesehen werden, die das Familieneinkommen berücksichtigt.

Mathias Huebener, Sophia Schmitz, Katharina Spieß und Lina Binger / Friedriche-Ebert-Stiftung (Hrsg.):
Frühe Ungleichheiten
Zugang zu Kindertagesbetreuung aus bildungs- und gleich­stellungs­politischer Perspektive

Bonn, 2023
56 Seiten
Kostenloser Download oder Bestellung der Printversion unter www.fes.de.

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung